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Smart Government in der Praxis

Warum Deutschland von Estland lernen sollte

Publiziert:

Florian Hartleb: Smart Government in der Praxis. Warum Deutschland von Estland lernen sollte, in: IM io. Das Magazin für Innovation, Organisation und Management, Juni 2017, Heft 2, S. 98-103, online unter http://www.scheer-innovation-review.de/allgemein/smart-government-in-der-praxis/


Die Digitalisierung ist das Leitmotiv des nordostmitteleuropäischen Staates, der die Einwohnerzahl von München und die Fläche von Niedersachsen hat. Eine Erhebung zur Akzeptanz der Onlinedienste in der älteren Bevölkerung zeigt: Das Land hat sich rasant und generationenübergreifend an die Digitalisierung gewöhnt und spielt für die digitale Transformation der deutschen Gesellschaft eine wichtige Vorbildrolle [1], [2], [3].

Die Online Services in e-Estonia

Die estnische Politik basiert auf einem Joint Venture zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Diesen Vorteil nutzt der Staat, der sich selbst als e-Estonia oder e-Staat bezeichnet [4], bereits seit Jahren als Identitäts- und Marketinginstrument. Seit 1999 arbeitet das estnische Kabinett beispielsweise papierlos – anfangs mit stationären Computern, mittlerweile mit Laptops und Tablets, welche die Minister zu den Sitzungen selbst mitnehmen. Viele Akten, etwa Grundbücher, gibt es nicht mehr in Papierform. Mit den Kommunalwahlen 2005 und den Parlamentswahlen 2007 hat das Land zudem ein landesweites E-Voting eingeführt. Amtliche Mitteilungen erscheinen seit 1. Juli 2003 ausschließlich online. Auch die Steuererklärung auf dem “virtuellen Bierdeckel” ist in Estland längst verwirklicht. Durch die Verbindung der staatlichen Einrichtungen mit der Person des Steuerpflichtigen ist die Steuererklärung weitgehend vorausgefüllt und per Internet abrufbar. Das gilt auch für Gesundheitsdaten: Zum Beispiel gibt es die digitale Krankenakte, in der Arztbesuche, Untersuchungsergebnisse und Medikamente nach Einwilligung des Patienten gespeichert werden. Auch behördliche Dokumente sind elektronisch gespeichert und über das Internet einsehbar. Auf Führerschein und Fahrzeugpapiere beispielsweise kann direkt aus dem Polizeiauto heraus zugegriffen werden.

 Weit mehr als zweihundert staatliche Dienstleistungen können die Esten mit dem elektronischen Ausweis in Anspruch nehmen. Postgänge sind im Grunde überflüssig, da die digitale Signatur gleichberechtigt zur handschriftlichen steht. Eine Privatfirma hat im Auftrag des staatlichen Zertifizierungszentrums eine Software entwickelt, mit der jede beliebige Datei digital signiert werden kann. Das Verfahren ist so einfach wie die Konvertierung von einer Word- zu einer PDF-Datei. Das digitale System ist als so genannte X-Road aufgebaut, ein 2003 eingeführtes zentrales System innerhalb von dezentralen digitalen Plattformen (eesti.ee). Begleitet wird die Infrastruktur von der entsprechenden Gesetzgebung. So wurde festgelegt, dass der Staat die Daten von Bürgern nur einmal erfassen darf und die, für digitale Behördengänge notwendigen Informationen, aus den Datenbanken kommen sollen.

 Die estnischen Digitalpioniere ermöglichen nun seit Mai 2015 Ausländern, e-resident (nicht Staatsbürger) zu werden und damit via Firmengründung am digitalen System, unabhängig vom Wohnort, teilzuhaben. Damit soll eine “Neubestimmung des Nationalstaates” im digitalen Zeitalter erfolgen und der Exportcharakter von e-Estonia weiter verstärkt werden [5]. Gerade für Freelancer ist das Angebot attraktiv. Zentrales Argument ist hier, dass eine Firmengründung in wenigen Minuten, ohne Notar und Behörden, möglich ist.

 

Agenda 2020

Auch in Zukunft will Estland seine X-Road weiter ausbauen. Diese wird gerade mit dem Nachbarn Finnland, der Estland sprachlich, kulturell und geographisch nahesteht, verwaltungstechnisch verkoppelt.

Nachdem 4G bereits flächendeckend verfügbar ist, bereitet sich Estland zudem, als eines der ersten Länder, gerade auf den Ausbau des mobilen Internets mit 5G vor. Und es soll auf diese Weise weitergehen: Die digitale Agenda 2020 für Estland gibt zum Ziel vor, dass alle Einwohner bis zum Jahr 2020 über schnelles Internet (30 Mbit/s und mehr) verfügen und mindestens 60% der Haushalte täglich ultraschnelles Internet (100 Mbit/s oder schneller) nutzen können [4]. Die Zahl der Nichtnutzer des Internets soll bis 2020 auf 5% reduziert werden [4].

Digitale Gesellschaft in allen Lebensbereichen

Digitalisierung fängt buchstäblich mit den Kindesbeinen an: Programmieren lernen Schüler, mit von staatlicher Seite zur Verfügung gestellten Computern, schon im Grundschulalter. 99% aller Banküberweisungen werden in Estland per Internet getätigt [6]. Mittlerweile nutzen 94% der Bürger die 2002 eingeführte elektronische ID-Karte – Voraussetzung für die Nutzung der e-Services und kompatibel mit dem Mobiltelefon [6]. Bereits 2012 hatten 95% der Esten die Steuererklärung auf elektronischen Wege eingebracht – weltweit einzigartig [6]. Diese Zahlen lassen keinen Zweifel: Die Digitalisierung ist gelebte Realität in Estland. Wie steht es aber mit der Generationengerechtigkeit? Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde noch eine digitale Spaltung in der Gesellschaft konstatiert. Über 60 Prozent der Erwachsenen in Estland würden demnach, wegen fehlender Fähigkeiten oder Möglichkeiten, nicht das Internet nutzen [7].


LITERATUR

[1] Sauerbrey, Anna (2015): Estland. So geht digital, in: Der Tagesspiegel vom 9. März, http://www.tagesspiegel.de/politik/estland-so-geht-digital/11145620.html (abgerufen am 27. März 2016).[2] Hartleb, Florian (2015): Gastkommentar: Vorbild Estland. Die baltische Republik macht vor, wie die Digitalisierung den Alltag der Menschen erleichtern kann. Deutschland sollte von den Erfahrungen lernAen, in: Süddeutsche Zeitung vom 23./24./25. Mai, S. 5.[3] Hartleb, Florian (2016): Gastkommentar: Von Estland digital lernen!, in: Die Welt vom 24. Februar, online unter http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article152580413/Von-Estland-digital-lernen.html (abgerufen am 25. März 2016).[4] Ministry of Economic Affairs and Communication (2013): Digital Agenda 2020 for Estonia, English version, https://www.mkm.ee/sites/default/files/digital_agenda_2020_estonia_engf.pdf (abgerufen am 3. April 2016).[5] Kotka, Taavi/del Castillo, Carlos Ivan Vargas Alvarez/Korjus, Kaspar (2015): Estonian e-Residency: Redefining the National-State in the Digital Era, Working Paper, University of Oxford, http://www.politics.ox.ac.uk/materials/centres/cyber-studies/Working_Paper_No.3_Kotka_Vargas_Korjus.pdf (abgerufen am 12. Februar 2016).[6] E-Estonia (2014): The Digital Society. ICT Export Cluster, English Version.[7] Gunter, Aleksei (2002): ): Digital divide widens in e-stonia, in: The Baltic Times, 3. Oktober, http://www.baltictimes.com/news/articles/7017/ (abgerufen am 2. April 2017).




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